Sidney CORBETT · Bentlager Liturgie
/ Ensemble Neue Musik
Pilgerlieder
/ Odhecathon Ensemble für alte Musik, Köln
Pilgerlieder des Spätmittelatlers und der Renaissance
discogs.com
ambitus amb 96803
1999
Bentlager Liturgie
— Crucifixus —
DIONYSIOS AREOPAGITA.
Mystische Theologie
1. Trinitas supersubstantialis [0:39]
2. Rectifica nos in mysticorum [1:54]
3. In quo lenta et absoluta theologiae [5:06]
4. In obscurissimo superlucidale supersplendentem [1:11]
5. Et in qua omne relucet [3:23]
6. Inocculatas mentes invisibiles intellectus [0:59]
7. Venerabilia ergo ista loquendo [1:11]
Patricia Vivanco, Sopran
Ensemble Neue Musik
der Hochschule für Musik Detmold, Abteilung Münster
Pilgerlieder des Spätmittelalters und der Renaissance
anonym, Spanien, 14. Jhdt.
aus dem 'Llibre Vermell de Montserrat'
8. „Polorum regina omnium nostra" [3:14]
a ball redón LV 7
9. „O virgo splendens" [4:01] LV 1
Caça de duobus vel tribus | Antiphona dulcis armonia dulcissime Virginis Marie de Montserrato
10. „Mariam matrem virginem attolite" [5:35] LV 8
anonym, Frankreich, 13. Jhdt.
aus dem Manuskript fonds français 844c der Pariser Nationalbibliothek
11. „La Quarte Estampie Royal" [2:24]
Spanien, 12. Jhdt.
aus dem 'Codex Calixtinus', Santiago de Compostela
12. „Nostra phalanx plaudet leta" [2:11]
Ato, Episcopus Trecensis cc 95
13. „Gratulantes celebremus" [4:00]
Magister Goslenus Episcopus Suessionis cc 97
14. „Vox nostra resonet, Jacobi intonet" [1:45]
Magister Johannes Legalis cc 102
„Wer das elend bawen will"
deutsches Pilgerlied, Text nach der Hs. München cgm 809 und 817
15. [1:22]
anonym um 1550
„Wer das elend bawen will"
„Ein breiten Hut den muß er han"
„Sack und Stab sind auch dabei"
Melodie: Bonner Gesangbuch, um 1550
16. „Der König von Hispanien der find't ein Kron" [0:28]
anonym um 1540,
Lautenbuch des Stefan Crauß von Ebenfurth
Hs. 18688 der Osterreichischen Nationalbibliothek Wien
17. „Es war dem Spitelmeister nit eben" [1:28]
anonym 1540,
G. Forster, Ein Außzug guter teutscher Liedlein der ander theil, 1540
18. „Der Killig, der war ein Biedermann" [1:23]
anonym 1512,
E. Oeglin, Knstlicher art ..., 1512
ODHECATON
Ensemble für alte Musik, Köln
auf historischen Instrumenten:
Armviole, Citole, Dudey, Dulziane, Fideln, Harfe, Laute, Organistrum,
Pommern, Portativ, Psalterium, Renaissance-Blockfflöten,
Renaissance-Querflöte, Schalmei
Pilgerlieder des Spätmittelalters und der Renaissance
Im Mittelalter gab es neben zahlreichen Pilgerstaten von mehr oder
weniger örtlicher Bedeutung vor allem drei Orte, die dem Pilger
vollständigen und ewigen Ablass von seinen Sünden
versprachen: Rom mit dem Grabe Petri — die Pilger wurden
Romfahrer genannt; ihr Symbol war das Kreuz —, Jerusalem mit dem
Heiligen Grab — die Pilger wurden Palmträger genannt; ihr
Symbol waren die Palmen, mit denen Christus bei seinem Einzug
begrüßt worden war —und Santiago de Compostela mit den
Reliquien des Apostels Jakobus — die Pilger wurden
Jakobsbrüder genannt; ihr Symbol war die Muschel —.
Waren ursprünglich nur die heiligen Stätten Rom und Jerusalem
als überregionale Pilgerorte anerkannt, machte sich in der Mitte
des 9. Jahrhunderts im westlichen Abendland ein Gerücht breit,
dass heilige Männer, von geheimnisvollen Lichterscheinungen
geführt, im spanischen Königreich Galicien, das nicht unter
muselmanischer Herrschaft stand, das Grab des Apostels Jakobus des
Älteren gefunden hätten und nun dort große
Völkerscharen zusammenkämen, um die heiligen Reliquien zu
verehren. Im Laufe der Jahre wuchs die Legende, und es wurde von
unerhörten Wundern berichtet, die in Santiago, aber auch auf den
Pilgerstraßen dorthin geschehen seien. Daraus entstand eine Mode:
Wer die Reise nach Jerusalem nicht auf sich nehmen konnte oder den
Besuch Roms als zu leicht verschmähte, wählte den Weg zum
Heiligen Jakobus. Hospitäler und Herbergen wurden für die
armen Pilger eingerichtet; die Ritter-orden, vor allem die Templer,
zeigten sich gastfrei und schützten die Wege. Im 14. Jahrhundert
soll über eine Million Menschen den Jakobsweg gepilgert sein, der
auch „Milchstraße" genannt wurde, da sich die Pilger nachts
an deren Sternen orientierten. Kam ein Pilger zurück — sehr
viele wurden krank und starben unterwegs oder wurden sogar von
Räubern ermordet —, wies er stolz die Jakobsmuschel vor, das
Ehrenzeichen des tapferen Pilgers.
In den letzten Jahren hat die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela
wieder sehr an Bedeutung gewonnen. Jährlich pilgern Zehntausende
zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit Auto, Bus und Flugzeug nach
Galizien zum Grabe und zur Kirche des Hl. Jakobus. Hierbei sind —
wie auch schon im Mittelalter — nicht ausschließlich
religiöse Gründe ausschlaggebend. Zwar pilgern viele Menschen
— im Mittelalter sicher die meisten und heute laut neuester
Statistik immerhin 92% der Besucher Compostelas — in den rauhen,
regenreichen und kalten Norden Spaniens, um am Grabe des Jakobus zu
beten, Buße zu tun und den Ablass zu gewinnen; manch einer aber
reist der Kunstschätze wegen, die es in den Orten an den seit
alters her festgelegten Pilgerrouten zu bewundern gilt, ein anderer
wiederum reist nur, damit er „die Seele baumeln lassen" kann
(Tucholsky), oder sucht die besondere physische und psychische
Herausforderung eines Weitwanderweges. Moderne Buchtitel versuchen,
diere unterschiedlichen Beweggründe zu verbalisieren:
„Spiritualität des Pilgerns", „Reiselust in Gottes
Namen", „Andacht und Abenteuer" u.a.m.
Aber auch heute noch ist jeder tief ergriffen, wenn er, nach manchen
Mühen und Entbehrungen in der Kathedrale von Santiago angekommen,
seine Stirn gegen die Jakobsfigur am „Portico de gloria" lehnt
und eventuell einen der glanzvollen Gottesdienste erlebt, als deren
spektakulker Abschluss der Botafumeiro, ein riesiges Weihrauchfass,
durch den Kirchenraum schwingt, während die Orgel in voller
Lautstärke spielt und ihre in den Kirchenraum gerichteten
„Spanischen Trompeten" eiklingen. (Böse Zungen behaupten
sogar, der fast im Übermaß entzündete Weihrauch diene
nur dazu, den Köpergeruch der vielen Pilger zu überdecken.)
Schon 1494 klagte Hieronymus Münzer aus Nürnberg in seinem
„Itinerarium Hispanicum" über den Lärm und das wenig
ehrfürchtige Verhalten der Besucher in der Kathedrale von Santiago
und fragte sich skeptisch, ob der Hl. Jakob wirklich dort begraben sei:
„Und dauernd ist ein solches Volksgeschrei in der Kirche,
daß man es nicht für möglich halten mochte.
Mäßig ist da die Ehrfurcht. Der heilige Apostel wäre
doch wert, inniger verehrt zu werden. (...) Sein Leib ist allerdings
von keinem da gesehen worden. Selbst im Jahr 1487, als der König
von Kastilien dort war, hat ihn keiner gesehen. (Aber) allein aus
Überzeugung glauben wir, was uns Menschen rettet." Und
ähnlich kritisch äußert sich der Rheinländer
Arnold von Harff in der „loeblichen pylgrymmacie", der
Beschreibung seiner Pilgerreise von 1496 bis 1498: „Doch ich
begeert mit groisse schenckonge dat man mir dat heylige corper tzoenen
weulde. Mir waert geantwort, soe wer nyet getzlich geleufft, dat der
heylige corper sent Jacobs des meirre apostel in deme hoilgen altaer
leege ind dae an twyuelt ind dat corper dan sein wurde, van stunt an
moiste er unsynnich werden wie eyn raesen hunt, dae mit hat ich der
meynonghe genoich ind vir gyngen voert vff die sacrastie". Doch diese
Zweifel hinderten letztlich niemanden, diese Pilgerfahrt anzutreten,
mochte sie auch noch so beschwerlich sein. Derselbe Arnold von Harff
meinte sogar, sie sei wegen des fehlenden Komforts eigentlich nur
Bettlern zuzumuten.
Die Pilgerbewegung hatte schon im Mittelalter auch eine weit über
das Spirituelle hinausgehende Bedeutung als wirtschaftlicher und auch
politischer Faktor: So wie heutzutage brachte der (geistliche)
Tourismus wirtschaftlichen Aufschwung in zum Teil sehr arme, abgelegene
Regionen, aber im Spanien der „Reconquista", der
Rückeroberung des ursprünglich christlichen, dann von den
Mauren besetzten Landes, war die Anwesenheit so vieler Christen auch
eine große Unterstützung dieses politischen Vorhabens, was
dann 1492 mit der Einnahme Granadas durch Ferdinand „den
Katholischen" auch zum gewünschten Erfolg führte. Und nicht
nur in einem „Jakobusjahr" wie 1999, wenn der Festtag des
Heiligen, der 25. Juli, auf einen Sonntag fällt, bezeugen die
zahllosen Pilger aller Nationen, dass der „Camino de Santiago",
der Weg nach Santiago, heute die Bezeichnung „Camino de Europa"
wieder zu recht trägt.
Die Zusammenstellung auf dieser CD ist besonders auf ältere Musik
ausgerichtet, die im Umkreis des Jakobus-Kultes entstanden ist;
Pilgermusik mit Bezug auf Rom oder Jerusalem wurde der Geschlossenheit
des Konzeptes wegen ebenso weggelassen wie Beispiele aus der
unüberschaubaren Menge von Kompositionen des 16. und 17.
Jahrhunderts. Die Zusammenstellung beginnt mit Liedern aus dem
Benediktinerkloster Montserrat in der Nähe Barcelonas, das ein
beliebter Wallfahrtsort auf dem Weg nach Santiago war. Dann erklingen
drei mehrstimmige Kompositionen aus dem „Codex Calixtinus" und
schließlich verschiedene Versionen des deutschen
Jakobs-Pilgerliedes „Wer das elend bawen will".
Im „Llibre Vermell", einem in rotes Saffian-Leder gebundenen
Manuskript, ist die Musik der Pilger aus dem 14. Jahrhundert
aufgezeichnet, die zu dem Bergkloster Montserrat mit seinem
Marienheiligtum pilgerten. Die Liedtexte sind entweder in Latein oder
in der Volkssprache, dem vulgar cathalan, geschrieben und preisen die
Gottesmutter. Im Eingangslied „Polorum regina omnium nostra" wird
angesprochen, dass Maria trotz Empfängnis und Geburt Jungfrau
blieb. Wie etliche andere Lieder aus dem „Llibre Vermell"
trägt es den Zusatz „a ball redón", d.h. „in
Art eines Rundtanzes", was darauf hinweist, dass diese Lieder nicht nur
gesungen, sondern auch getanzt wurden; sie stehen meist im Dreiertakt
und sind melodisch stark dreiklangsbestimmt, was auch zahlenmystische
Bedeutung haben kann: Die Zahl „3" gilt als Zahl der
Vollkommenheit Gottes, der Trinität. Von der Form her lassen sich
in „Polorum regina" ein Refrain (Estribillo) und drei Strophen
(Coplas) erkennen, wobei der Strophenschluss jeweils die Melodie des
Refrains wieder aufgreift.
Für unseren Kulturkreis scheint die tanzartige Ausführung
eines religiösen Liedes weniger angemessen, doch aus Anmerkungen
im „Llibre Vermell” weiß man, dass die Pilger aller
Nationen ganze Nächte in der Kirche durchtanzten und sich
gegenseitig ihre Lieder vorsangen, wobei sie zur Begleitung die
Instrumente ihrer Heimat einsetzten. Diesen Brauch aufgreifend, wird
das auch als „Caça" bezeichnete Marienlied „O virgo
splendens hic in monte celso miraculis serrato" gemäß der
Aufführungspraxis der Zeit mit einem Bordun, einem ausgehaltenen
Liegeton, durch Organistrum (große Drehleier) begleitet. Die
Bezeichnung „Caça" weist auf eine polyphone Satzstruktur
hin: Es ist ein zwei- oder dreistimmig auszuführender Kanon. Wenn
schon in der Kirche des Klosters Montserrat und in der Kathedrale von
Compostela getanzt wurde, so muss man das erst recht von den
Pilgerherbergen annehmen, in denen sich die Pilger abends trafen und
bei Wein und mit Gesang und Tanz die Mühsal des langes Weges zu
vergessen suchten. Beispiel eines solchen Tanzes ist die „Quarte
Estampie Royal", bei der sich die mitspielenden Instrumente sowohl im
tutti als auch einzeln vorstellen.
Der „Codex Calixtinus", eigentlich „Liber Sancti Jacobi",
ist ein von dem französischen Priester Aymerie Picaud, der 1123
nach Compostela pilgerte, zusammengestellter Pilgerführer, der als
Werk von Papst Calixtus II. ausgegeben wurde. In ihm wird neben der
Auflistung der Wegstrecken zum Pilgerziel, der Darlegung der
Eindürcke über den Weg in verschiedensten Facetten und
schließlich der Schilderung des Zieles selbst im letzten Buch
auch die bei der Liturgie in Santiago verwendete Musik mitgeteilt: Es
sind größtenteils einstimmige Hymnen, Litaneien und
Sequenzen, doch schließen sich auch Beispiele mehrstimmiger Musik
an, zu denen sogar teilweise Komponistennamen mitgeteilt werden, die
vermutlich aber fiktiv sind. Stilistisch ist die Verwandtschaft zur
Pariser Notre-Dame-Schule unverkennbar.
Notiert sind die Stücke in unrhythmisierter französicher
Quadratnotation, wobei im Manuskript bei den mehrstimmigen Stücken
immer klar zu erkennen ist, welche und wieviel Noten der Oberstimme
während einer Note der choralartigen Unterstimme zu spielen bzw.
zu singen sind. Für eine Aufführung müssen diese
Notengruppen rhythmisiert werden. Die hier vorgestellten Fassungen
stellen nur einzelne unter vielen möglichen Lösungen dar und
erheben nicht den Anspruch, die einzig gültige Form zu sein. Das
besondere Anliegen dieser Rhythmisierung und Übertragung war, die
in den Sätzen durchklingenden volkstümlichen Elemente zu
verdeutlichen, was zum Beispiel bei dem Hymnus „Gratulantes
celebremus" — hier rein instrumental vorgetragen — zu einem
Klangergebnis führt, von dem man kaum glauben kann, dass dieses
Stck schon 700 Jahre alt ist. Auch der Cantus „Vox nostra
resonet" ist eine sehr volkstümliche Melodie, die heute in
Galicien noch als Tanzlied „Baila" gesungen wird.
Das diese Zusammenstellung abschließende deutsche Pilgerlied
„Wer das elend bawen will" (= Wer in die Fremde ziehen will) ist
seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert schriftlich überliefert; es
wurde noch im 19. Jahrhundert an der Mosel aus dem Gedächtnis
aufgeschrieben und fand dann Eingang in die Liedersammlung „Des
Knaben Wunderhorn". Im 16. Jahrhundert bezeugen die vielen Vertonungen
seine Beliebtheit und Verbreitung.
In der hier vorgestellten Fassung werden aus den 26 Strophen der
ältesten Handschrift die Anfangsstrophe, die Schlussstrophe sowie
die Ballade vom ungetreuen Spitelmeister (Herbergsvater)
herausgegriffen. Zunächst wird die notwendige Kleidung
beschrieben: zwei Paar feste Lederschuhe, Wasserflasche, breiter Hut
mit der Jakobsmuschel auf der Krempe, wollener und mit Leder besetzter
Pilgermantel (die Pelerine!), Schnappsack und Wanderstab (mit
Metallspitze). Im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg ist eine
solche Pilgertracht des Nürnberger Bürgers Stefan III. Praun
von 1570 ausgestellt.
In den anderen, hier nicht gesungenen Strophen werden die Ungewissheit
und die Gefahr deutlich, denen der Pilger ausgesetzt war, wenn er
für längere Zeit — manchmal Jahre — seine Heimat
verließ. Der Liederschreiber warnt vor physischen und psychischer
Gefahren (schlechtes Trinkwasser, schlechtes Essen, unfreundliche
Gastgeber, gefährliche und beschwerliche Wegstrecken, Heimweh und
Einsamkeit, mangelnde geistliche Betreuung), hebt aber auch hervor, in
welchen Gegenden der Pilger willkommen und geachtet sei.
In der letzten — hier wieder gesungenen — Strophe wird
besonders betont, dass die Pilger sich im fremden Land gegenseitig
helfen sollen: Dann sei das eigentliche Anliegen der Fahrt erreicht,
die Gewinnung von „Gnad und Ablaß" als Voraussetzung
für das ewige Leben.
Die in das Lied eingeschobene „Ballade vom ungetreuen
Spitelmeister" erzällt sehr anschaulich und realistisch, welchen
Schwierigkeiten ein Pilger — in einem deutschen Lied ist es
natürlich ein deutscher Pilger — in einer ihm unbekannten
und feindseligen Umwelt ausgesetzt sein kann, wobei der Ausgang der
Geschichte mit der Bestrafung des Herbergsvaters und seiner Tochter dem
Pilger verdeutlichen soll, dass er einem solchen Schicksal nicht
schutzlos ausgeliefert sei, sondern dass sich sogar der spanische
König persönlich bemühe, den Pilgerweg sicher zu machen.
Um für einen heutigen Hörer eine solche lange Geschichte
interessanter zu gestalten, aber auch um zu zeigen, in welch
mannigfacher Weise die Melodie des Jakobsliedes mehrstimmig bearbeitet
wurde, werden sehr unterschiedliche Fassungen und sehr unterschiedliche
Instrumentierungen vorgestellt. Sie reichen von der einstimmig
vorgetragenen Melodie über zwei-, drei- und vierstimmige
Sätze bis zur fünfstimmigen Fassung des Oberpfälzers
Jobst vom Brandt mit zwei bewegten Oberstimmen und einem dreistimmigen
Kanon der Unterstimmen. Manche Sâtze finden sich als weltliche
„Kontrafaktur" mit fast obszöner Textversion („Es
wollt ein Maidlein grasen gan" in den „Teutschen Liedlein" des
Georg Forster; derselbe Satz erscheint in einem Druck aber auch als
Marienlied „Dich Mutter Gottes rufen wir an") oder
„christlich gebessert", wie schon Martin Luther seine Neu- und
Umdichtung ursprünglich katholischer Lieder nannte, und bei M.
Praetorius schließlich als Choral der reformierten Kirche. Das
Lied heißt bei Praetorius: „Wer hie das Elend bauen will,
der heb sich auf und zieh dahin und geh des Herren Straße. Glaub
und Geduld darf er gar viel, soll er die Welt verlassen";
ursprünglich hieß es: „Wer das elend bawen wil der heb
sich auf und sei mein gsel wol auf sant Jacobs straßen". Das Ziel
des irdischen Daseins blieb zwar in allen Konfessionen gleich: Man
sucht das ewige Leben zu erlangen; doch über den Weg dahin gab es
die Konfessionen trennenden Auseinandersetzungen. Der Unterschied
zwischen den Vorstellungen, wie man dieses Ziel am besten erreichen
kann, wird deutlich in den jeweiligen Textfassungen: Zieht man auf
„Sankt Jakobs — eines Heiligen und Apostels —
Straßen", um mit seiner Hilfe den Sündenablass zu gewinnen
(im alten Pilgerlied heißt die letzte Strophe: „ ... Der
sant Jacob dienen tuot, der lieb got sol im lonen"), oder zieht man auf
„des Herren — das heißt also Gottes - Straßen",
wobei einem nur Geduld, also das Hinnehmen des gottgewollten Geschicks,
und vor allem der Glaube helfen können?
Dr. Dieter Klöckner
Sidney Corbett
Bentlager Liturgie
— Crucifixus —
für Sopran und Kammerorchester
1999
Text aus:
Dionysos Areopagita
De mystica theologia
Die Bentlager Liturgie entstand im Frühjahr 1999 als Auftragswerk für das Kloster Bentlage in
Rheine anlässlich des Projektes „500 Jahre Bentlager Schädelschrein — Tür zu einer weiteren Welt?".
Das Museum Kloster Bentlage birgt zwei Reliquiare, den für den
Hauptaltar der Klosterkirche geschaffenen spätgotischen
sogenannten „Schädelschrein" von 1499 und den etwas
jüngeren „Figurenschrein". Beide Kästen gehören
zur Gattung des „Paradiesgartens". Der
„Schädelschrein" enthält ein Kruzifix in quasi
zweidimensionaler Gestalt, umgeben von einem komplexen, streng
symmetrischen Gebilde aus Phantasieblumen sowie Knochen und anderen
Überresten von Heiligen — Maria Magdalena, Augustinus, ein
Haar der Heiligen Maria —, wairend im „Figurenschrein" aus
der Frührenaissance Paradiesblumen und das Kruzifix realistisch
dargestellt wurden, mit Jesus am Kreuz mit bläulicher Haut und
blutend, etwa im Stile Matthias Grünewalds. Den
Schädelschrein rahmen Schädelfragmente von teilweise
unbekannten Heiligen, die nicht nach vorn schauen, sondern vom
Betrachter abgewandt sind. Bei der Betrachtung des
„Schädelschreins", um den es beim Jubiläum eigentlich
geht, fiel es mir sehr schwer, meinen Blick konzentriert auf einen
bestimmten Punkt zu lenken. Die Blumen und Reliquien schwirrten umher,
als ob der Schrein dem Versuch einer Kontemplation widerstreben
würde.
Meine Aufgabe als Komponist bestand darin, diesem Schrein aus heutiger
Sicht zu begegnen. Bei der Suche nach einer Perspektive, aus der ich
mich dem Schrein musikalisch nähern könnte, schien mir eine
Konfrontation unausweichlich. Auf der einen Seite wird uns das
historische Faktum der grausamen Hinrichtung eines Rabbis bei Jerusalem
vor 2000 Jahren gezeigt. Um das Kreuz kommt man bei der Betrachtung des
Schreins nicht herum. Andererseits aber symbolisieren die
Paradiesblumen und Reliquien die Verheissung des Jenseits. In dieser
„Kreuzung" bzw. diesem „Aufeinanderprallen" zwischen dem
Diesseitigen und Jenseitigen, d.h. zwischen dem Physischen und dem
Metaphysischen, liegt für mich der Sch1üssel zum Wesen des
Schreins. In meiner Komposition werden diese beiden Ebenen
überlagert. Die musikalischen Stränge entwickeln sich
parallel, komplementär und kontrapunktisch. Erst in der Gesamtheit
wird auf eine dritte, transzendentale Ebene hingezeigt.
Die Bentlager Liturgie ist in sieben Stationen aufgeteilt, die
ineinander übergehen. Der Sopran singt Texte aus der
„Mystischen Theologie" des Dionysios Pseudo-Areopagita, eines
syrischen Mönches aus dem 5. Jahrhundert. Die Texte handeln von
der Vorstellung einer Gottheit, die jenseits aller denkbaren Attribute,
jenseits von Sein und Nicht-Sein, völlig entrückt und
unnahbar verborgen in der transluzenten Urdunkelheit weilt — deus
absconditus. Die Vokalpartie ist stets strahlend und lyrisch gesetzt,
über die sieben Stationen schwebend. Das Orchester hingegen spielt
ein sieben-stufiges „Crucifixus", eine Kammer-Passion also. Die
Struktur der Dionysios-Texte ist immer in Dreier-Gruppierungen
geordnet, d.h. jedes Substantiv wird durch drei Adjektive
verstärkt. Diese Dreierstruktur wurde auch in der Komposition der
Instrumentalstimmen aufgenommen, sowohl in den Taktarten — es
sind alles Dreierformen — als auch in der Gestaltung der Details.
Natürlich ist dieses Werk keine Liturgie im strengen Sinne, doch
ist es liturgischer Natur. Dabei war es nicht mein Bestreben, ein Werk
zu schreiben, das sich in den herkömmlichen kirchlichen Ritus
einfügen ließe, sondern den Versuch zu wagen, durch Musik zu
geistiger Kontemplation anzuregen.
Trinitas supersubstantialis et superdealis et superbenigna
Rectifica nos in mysticorum eloquiorum superincognitum
et superlucentem et sublimissimum verticem
In quo lenta et absoluta et immutabilia theologiae mysteria secundum
superlucentem absconduntur occulte docentis silentii caliginem
In obscurissimo superlucidale supersplendentem
Et in qua omne relucet et invisibilium superbonarum
splendoribus superimplentem
Inocculatas mentes invisibiles intellectus
Venerabilia ergo ista venerabiliter loquendo
Amen
Kapitel I
DIE GÖTTLICHE DUNKELHEIT
1. Anrufung
Dreieinigkeit, über alles Wesenhafte hinaus, mehr als
göttlich und mehr als gut: du, die du über alle christliche
Gottesweisheit wachest, führe uns nicht nur jenseits von Licht und
Dunkel, sondern auch über das Unkennbare hinaus bis nahe an die
höchsten Gipfel des mystisch deutenden Wortes, bis dorthin, wo die
einfachen, absoluten unversehrbaren Mysterien des Gotteswissens
offenbar werden und wo die Dunkelheit des Schweigens über alles
Licht hinaus die Wahrheit erhellt: denn - tatsächlich! - in diesem
Schweigen enthüllen sich die Geheimnisse des Dunkels.
O Dunkel des Schweigens! Es wäre nicht genug, von dir zu sagen,
daß du vor lanter Finsternis in strahlendstem Licht
aufglänzest, nicht genug, von dir zu glauben, daß dein Glanz
sich immer gleich bleibe, unstörbar und unzerstörbar, nie zu
sehen und nie zu erreichen. Es wäre auch nicht genug, von dir zu
sagen, daß du, Dunkelheit des Urgrunds, jenen vollkommenen Geist,
der die Augen des Daseins und die Augen des Seins zu schließen
vermöchte, mit der Leuchtkraft deiner Fülle bis zum Bersten
blendest, und schöner bist als die Schönheit selbst. Dies ist
mein Gebet.
DIONYSIOS AREOPAGITA „Mystische Theologie und andere Schriften"
© der deutschen Übersetzung by Scherz Verlag (Bern, München, Wien) für den Otto Wilhelm Barth Verlag
Sidney Corbett
1960 in Chicago geboren, studierte Sidney Corbett Komposition und
Philosophie an der University of California, San Diego und setzte sein
Kompositionsstudium an der Yale University fort, wo er 1989
promovierte. 1985 bis 1987 studierte er als DAAD-Stipendiat Komposition
an der Hamburger Musikhochschule bei György Ligeti. Weitere
Kompositionsstudien bei Martin Bresnick, Jacob Druckman, Bernard Rands
und Pauline Oliveros.
1995 war Sidney Corbett Gastprofessor fr Komposition und Analyse
zeitgenöissischer Musik an der Duke University, Durham (USA).
Corbett hielt Vorträge und Meisterkurse an der Universität
Hamburg, der Universitätt Münster, der Musikhochschule
Hamburg, der MartinLuther-Universität Halle, am Königlichen
Konservatorium Aarhus, am Haus der Komponisten Moskau sowie an
zahlreichen Universität Amerikas, u.a. an der Yale University,
University of California, Berkeley, University of Illinois, Urbana.
Seine Werke werden beim Moeck Verlag, Celle, beim Verlag Neue Musik,
Berlin, und beim Bärenreiter Verlag, Kassel, veröffentlicht.
CD-Aufnahmen seiner Kompositionen erschienen bei CRI/Emergency Music
(New York), Ambitus, Koch International und BIS. Eine Portrait-CD ist
1998 bei Kreuzberg Records erschienen.
Sidney Corbett lebt in Stuttgart.
Ensemble Neue Musik
der Hochschule für Musik Detmold, Abteilung Münster
Flöte: Katrin Gerhard
Klarinette: Nikolaus Klein
Saxophon: Jennifer George
Schlagzeug: Olaf Pyras
Harfe: Eva Bäurle
Violine: Christine Rudolf
Bratsche: Marc Nijdam
Cello: Katrin Langewellpott
Dirigent: René Gulikers
Das Ensemble Neue Musik der Hochschule für Musik Detmold,
Abteilung Münster wurde 1995 gegründet und stekt seitdem
unter der Leitung von René Gulikers. Seit seiner Grijndung
spielt das Ensemble jedes Jahr im Festival „Musik unserer Zeit"
sowie im alle zwei Jahre stattfindenden „Komponistenprofil" der
Stadt Münster. Im Sommersemester werden aktuelle, neue
Kompositionen gespielt, im Wintersemester die Mteren,
„klassischen" Stücke moderner Musik. Im Jahr 1998
produzierte das Ensemble die CD „Ferne Klkige" mit Werken
ostasiatischer Komponisten.
René Gulikers · Dirigent
Nach dem Abschluss seines Studiums an der Musikhochschule Maastricht
besuchte René Gulikers (geb. 1961) zahlreiche Dirigierkurse in
verschiedenen Ländern und erhielt dort entscheidende Impulse durch
berühmte Orchesterleiter. Er gewann den 1. Preis für junge
Dirigenten in Salzburg und war Telecom-Preisträger in
Besançon, Frankreich. René Gulikers arbeitete mit
Orchestern in Südkorea, Japan und Chile. Bei der
Abschlussveranstaltung des Festivals „Moskau Modern 1992" im
berühmten Tschaikowsky-Saal leitete er das Moskauer
Philharmonieorchester. Seit 1988 ist René Gulikers
künstlerischer Leiter des „Ensemble '88", eines Ensembles
für zeitgenössische Musik.
An der Hochschule für Musik Detmold, Abteilung Münster ist René Gulikers als Dozent tätig.
Patricia Vivanco · Sopran
Patricia Vivanco wurde 1973 als Tochter tschechisch-peruanischer Eltern
in Kopenhagen geboren. Ihre musikalische Ausbildung begann mit
Klavierunterricht an der Iserlohner Musikschule; es folgte
Gesangsunterricht bei Angelika Lutz, Prof. Sylvia Geszty, Stuttgart,
und Prof. Herma Kramm, Münster. Zwischen 1988 und 1992 gewann
Patricia Vivanco mehrere erste Preise für Klavierbegleitung bei
„Jugend musiziert".
Seit 1996 Gesangstudium bei Prof. Uta Spreckelsen an der Hochschule
für Musik Detmold, Abteilung Münster. Verpflichtungen als
Konzert- und Oratoriensopranistin, u.a. als Solistin bei den Salzburger
Festspielen 1997.
GWK • Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Kulturarbeit
Hochschule für Musik Detmold, Abteilung Münster
Kunstakademie Münster, Hochschule für Bildende Künste
Förderverein Kloster/Schloß Bentlage
Kloster Bentlage gGmbH
Kulturforum Rheine
Museum Kloster Bentlage
500 Jahre Bentlager Schklelschrein -
Tür zu einer weiteren Welt?
Zeitgenössische Auseinandersetzungen
in Kunst und Wissenschaft
6. Juni 1999 bis 29. August 1999
geffördert durch:
Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport
des Landen Nordrhein-Westfalen
NRW.
Landschaftsverband Westfalen-Lippe
Stadt Rheine • Stadtsparkasse Rheine • Volksbank Rheine
Das Gesamtprojekt ist in einem Katalog ausführlich dokumentiert.
Kloster Bentlage
Bentlager Weg 130 · 48432 Rheine
Telefon: 05971- 918400 · www.kloster-bentlage.de