Zur Harfe gesungen / Almut Kirchner
Europäische Musik aus fünf Jahrhunderten
medieval.org |
discogs.com
Verlag der Spielleute CD 9807
1998
[43:53]
1. Reis glorios [5:11]
Guiraut de BORNELH (1173-1220)
Cantigas de Santa Maria
2. No. 123 [3:32]
CSM 123 |
Harfe solo / Harp solo
3. No. 10 Rosa das rosas [4:21]
CSM 10
4. When to her lute Corinna sings [1:27]
Thomas CAMPION, ca. 1613
John DOWLAND, ca. 1600
5. Semper Dowland semper dolens [2:57] |
Harfe solo / Harp solo
6. Flow my tears [3:39]
7. Romerico [2:06]
Juan del ENCINA, 1489
8. Dindirindin [1:55]
Cancionero de Palacio, anonym, 15. Jhd / 15th Cent.
9. Fantasia III (tercer tono) [2:42]
Luis de NARVÁEZ (1510-1580) |
Harfe solo / Harp solo
10. Triste estaba el Rey David [2:47]
Alonso MUDARRA, 1546
11. Mi parto, ahi sorte ria [3:45]
Anonym, 1517
12. Chi non crede B.T. [2:03]
Andrea ANTICO, Frottole, 1517 |
Harfe solo / Harp solo
13. Amarilli [2:25]
Giulio CACCINI (1550-1618)
14. Parit virgo filium [1:55]
Anonym, 14. Jhd / 14th Cent.
15. Winterlied [1:31]
Text/Lyrics: Robertihn, 1638 || Musik/Music: Heinrich ALBERT (1604-1651)
16. Es ist ein Schnee gefallen [1:40]
Text/Lyrics: Anonym, 1470 || Musik/Music: Almut Kirchner, 1980
Instrumente:
1, 2, 3, 14:
gotische Harfe, nach deutschem Modell ›Wartburg-Harfe‹ (um 1400), Frank Sievert 1996
4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 15, 16:
Arpa doppia nach italienischem Vorbild (›Este harp‹, um 1500), Tim Hobrough 1981
Aufnahmezeiten und -Orte:
4, 7, 12, 13, 15, 16 — Kirche St. Marien Osterholz, 15.02.1997
1, 3, 8, 10, 11 — Kirche St. Jürgen, Lilienthal, 1.11.1997
2, 5, 6, 9, 14 — Kirche St. Jürgen, Lilienthal, 19.04.1998
Einführung
Vom Sänger selbst begleiteter Gesang ist ein archetypisches Symbol
in vielen Kulturen auf der ganzen Welt. Von tradierten Balladen, mit
denen Geschichte und Geschichten in schriftlosen Kulturen weitergegeben
wurden, bis hin zu Troubadouren und Spielleuten, die Neuigkeiten
weiterzugeben hatten, aber auch hohe höfische Unterhaltungskultur
pflegten, hatte der Sänger mit Saiteninstrument oder Trommel
über viele Jahrhunderte seinen Platz in der europäischen
Kultur.
Mit dem Aufkommen einer eigenständigeren Instrumentalmusik ab dem
14. Jahrhundert begannen sich Gesang und Instrumentalbegleitung
voneinander zu trennen, die Funktionen wurden von verschiedenen
Personen wahrgenommen. Zwar wurde bereits der mittelalterliche
Troubadourgesang von mehreren Instrumentalisten begleitet, wenn
genügend Instrumentalisten anwesend waren; der fahrende
Sänger mit seiner Laute, Rebec oder Harfe war sich — und
seiner Musik — jedoch selbst genug, wenn dies nicht der Fall war.
Bis in die Hochrenaissance hinein traten immer wieder sich selbst
begleitende Sänger auf — bekannt die drei singenden Frauen,
die sich am Hof von Ferrara mit Gambe, Harfe und Laute begleiteten und
als »Concerto delle donne« gefeiert wurden. Mehr und mehr
wurde dies jedoch zur Ausnahme und zur Gesangsbegleitung gehörte
spätestens um 1600 ein Continuo-Ensemble. Dennoch wurden in
Renaissance und Frühbarock unzählige Lieder geschrieben, die
ein geübter Musiker selbst in kleinster Besetzung mit Laute, Harfe
oder einem Tasteninstrument begleiten konnte. Zu den bekanntesten
zählen hier die Lieder der englischen Renaissance-Komponisten John
Dowland und Thomas Campion.
Nach der Barockzeit trennten sich die Gesangsfunktion und die
Begleitfunktion immer stärker; ein sich selbst begleitender
Sänger romantischer Lieder, etwa von Schumann mit den
komplizierten und ausdifferenzierten Klavierbegleitungen, die das
Stimmungsbild des Textes umsetzen, wäre nahezu undenkbar. Dennoch
hat die Tradition des selbstbegleiteten Liedes überlebt: bei den
politischen und gesellschafts-kommentierenden Liedermachern, die man in
gewisser Weise auch als die Erben der Troubadoure verstehen kann.
Wie auch immer: Das selbstbegleitete Lied erzeugt naturgemäß
eine Einheit und eine Intimität in der umgesetzten Musik, die auf
anderer Weise kaum zu erreichen ist: Sie präsentiert sich nicht,
geht nicht nach außen, sondern bleibt nach innen gerichtet und
bietet dem
Hörer an, sich in den Wiederentstehungsprozeß der Musik hineinnehmen zu lassen. Im Ergebnis wachsen nicht nur Gesang und Begleitung zu einer untrennbaren Einheit Lied oder Musik zusammen — auch die Wahrnehmung des Hörers wird in die Musik hineinverwoben.
Die auf dieser CD vorgestellten Lieder von Mittelalter bis
Frühbarock wollen einen Querschnitt europäischer Lieder, ganz
ohne künstliche Unterscheidung zwischen »Kunstlied«
und »Volkslied«, vorstellen. Vom künstlerisch
durchgearbeiteten,
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aber nach Aussage von Musikwissenschaftlern an Volksliedern und
—tänzen der Provence orientierten Troubadourlied des Guiraut
de Bornelh, das als »Alba«, Morgenlied, mit dem die
Liebenden gewarnt werden, ein klassisches Thema der nichtpolitischen
Troubadourlyrik vorstellt, über Pilgerlieder aus der Sammlung des
Alfons X. von Kastilien, die auf dem Weg nach Santiago de Compostela
gesungen wurden: Marien-Loblieder und lange Balladen, in denen in
volkstümlichen und Troubadour-Melodien über die Wunder Marias
berichtet wird. Das mittelalterliche Spanien mit seiner Begegnung
europäischer, maurischer und jüdischer Kultur wirkte bis in
die Hochrenaissance befruchtend auf alle Bereich des kulturellen
Lebens. Die von den Arabern eingeführte Laute sowie die maurischen
und jüdischen Skalen beeinflußten die Musik sehr stark,
insbesondere die Entwicklung der gezupften Gitarren-, Lauten- und
Harfenmusik. Mit »Amarilli« von G. Caccini wird bereits die
Entwicklung der Continuo-Musik verdeutlicht, bei der die Gesangspartie
auf die strenge Form des Strophenliedes zugungsten einer expressiveren,
freieren, unmittelbareren Gestaltung des Textes verzichtet. Auch in der
begleitenden Continuo-Stimme bestehen erhebliche Freiheiten,
musikalische und textliche Wendungen zu verstärken.
Aus der Blütezeit des Renaissance-Liedes darf der Vertreter des
polyphonen Satzes bei abgrundtief trauervollen Inhalten — John
Dowland — nicht fehlen.
Die hier vorgestellten Fassungen erheben keinen Anspruch auf
wissenschaftlich-historische »Authentizität« im Sinne
einer abgesicherten historischen Aufführungspraxis; dies ist
insbesondere bei den frühen Liedern kaum zu leisten. Wohl aber
wollen sie hinweisen auf ein auf historischer Aufführungspraxis
fußendes So könnte es gewesen sein mit den bescheidenen Mitteln des »einsamen«, zum eigenen Instrument singenden Musikers.
Introduction
Self-accompanied singing is virtually an archetypal symbol in many
cultures throughout the world. From traditional ballads, by means of
which history and stories were transmitted in cultures without a
written tradition, to troubadours and players, whose task it was to
convey news but who also fostered a high culture of courtly
entertainment, the singer with stringed instrument or drum had a place
for hundreds of years in European culture.
With the emergence of independent instrumental music from the
fourteenth century, singing and instrumental accompaniment began to
separate from each other and different people performed these
functions. It is true that troubadour singing in the Middle Ages had
already been accompanied by several instrumentalists, if enough of the
latter were present. But if this were not the case, the travelling
singer with his lute, rebec or harp was sufficient unto himself and his
music.
Up until the High Renaissance, self-accompanied singers appeared again
and again. Increasingly, however, this became an exception and by 1600
a continuo ensemble belonged to song accompaniment. Nevertheless,
during the Renaissance and Early Baroque period, numerous songs were
written which practised musicians could accompany themselves on lute,
harp or a keyboard instrument. The most famous of these include the
songs of the English Renaissance composers John Dowland and Thomas
Campion.
After the Baroque period, the functions of singing and of accompaniment
separated more and more. A self-accompanied singer of romantic songs,
for example those of Schumann with their complex and subtly
differentiated piano accompaniments that render the whole atmosphere of
the text, would be almost unimaginable. Nevertheless, the tradition of
the self-accompanied song has survived, especially amongst French
music, in those singer-songwriters expressing political or social
comment, which we could also in a certain sense regard as the
descendants of the troubadours.
Be that as it may; the self-accompanied song produces naturally a unity
and an intimacy in the music rendered which can scarcely be achieved in
any other way: it does not present itself, is not directed outwards but
keeps its inward focus and allows the audience to experience the
process of the music's recreation. The result is that not only are singing and accompaniment fused into an indivisible unity, song or music,but also the perception of the listener is woven in.
The songs on this CD, which range from the Middle Ages to Early
Baroque, are intended to represent a cross-section of European songs
without any artificial distinction between »art« and
»folk« song. These songs range from the morning song
»Alba« to the pilgrims' songs from the collection of Alfons
X of Castille. »Alba«, the artistically worked troubadour
song of Guiraut de Bornelh (although based, according to musicologists,
on Provençal folk songs and folk dances) represents, as a
morning song warning lovers, a classic theme of non-political
troubadour lyrics.
The pilgrims' songs of Alfons X of Castille were sung on the way to
Santiago de Compostela: songs of praise to Mary and long ballads that
tell of the miracles of Mary both in folk and in troubadour melodies.
Medieval Spain, with its blending of European, Moorish and Jewish
culture, exercised up until the High Renaissance a stimulating effect
upon all areas of cultural life. The lute, which was introduced by the
Arabs, and the Moorish and Jewish scales greatly influenced the music,
especially the development of plucked guitar, lute and harp music.
In G. Caccini's »Amarilli« the development of continuo
music is already made clear in which the singing part renounces the
strict form of the verse song in favour of a more expressive, freer,
more direct structure. In the accompanying continuo too there is
considerable freedom in order to strengthen musical and lyrical
expressions.
From the golden age of the Renaissance song John Dowland may not be
omitted as the representative of polyphonic movement; one whose songs
have bitterly sad contents.
The settings presented here lay no claim to scientific-historical
»authenticity« in the sense of proven historical
performance practice; this is scarcely achievable, especially regarding
the early songs. They do, however, want to point to an it could
have been so, based on historical practice, with the modest means of
the »lonely« musician singing to his own instrument.
Almut Kirchner muß zwischen verschiedenen Welten wandern: Sie
sang, bevor sie laufen konnte und erhielt schon früh eine
umfassende musikalische Ausbildung und Förderung mit den
Instrumenten Violine, Klavier, verschiedenen Flöten sowie in
musiktheoretischen Fächern, sang in verschiedenen Chören
sowie kleinere Solopartien. In der Schulzeit war sie als Violinistin
Mitglied des Landesjugendorchesters Rheinland-Pfalz. Bereits aus dieser
Zeit stammt ihr spezielles Interesse an der sogenannten »Alten
Musik« und Fragen der historischen Aufführungspraxis.
Nach dem Abitur entschloß sie sich entgegen aller Erwartungen
für ein Studium der Physik, neben dem sie Gesang bei Ingeborg Most
und Elisabeth Jungblut studierte. Während dieser Zeit
erfolgte insbesondere die Spezialisierung auf Gesangstechniken der
alten Musik. Sie konzertierte solistisch und mit verschiedenen
Ensembles.
Während der Arbeit an der Dissertation in theoretischer Physik
geriet sie an die Harfe; nach Abschluß der Promotion studierte
sie ein Jahr lang Historische Harfen bei Andrew Lawrence King an der
Akademie für Alte Musik in Bremen.
Heute gibt sie neben ihrer Berufstätigkeit im Bereich des
Umweltschutzes Konzerte als Sängerin, Harfenistin oder beides,
sowohl solistisch als auch mit wechselnden Ensembles in den Bereichen
Alte und Neue Musik. Außerdem schreibt sie eigene Lieder.
Almut Kirchner moves between very different worlds. She sang before she
could walk and received from an early age comprehensive musical
training as well as special training in violin, piano, various kinds of
flute and in aspects of musical theory. She also sang in various choirs
as well as performing smaller solo parts. During her school time, she
played the violin in the Youth Orchestra of the state of
Rheinland-Pfalz and this period already saw the origin of her special
interest in so-called »ancient music« and in questions of
historical performance practice.
After her ›A‹ Levels, she decided - contrary to all expectations
- to study physics, as well as receiving voice training with Ingeborg
Most and Elisabeth Jungblut. During this time, she specialized in
particular in the singing techniques of ancient music. She gave
concerts both as a soloist and together with various ensembles.
Whilst she was working on her thesis in theoretical physics, she came
upon the harp and, after completing her doctorate, studied historical
harps with Andrew Lawrence King at the Akademie für Alte Musik in
Bremen.
Today, as well as working in the field of environmental protection, she
gives concerts as a singer, harpist, or both, solo or with various
ensembles, in the fields of ancient and modern music. In addition to
this, she writes her own songs.
Die Instrumente
Wartburg-Harfe
Bei der kleinen »gotischen« Harfe handelt es sich um einen
Nachbau einer Renaissance-Harfe aus der Zeit um 1450, die auf der
Wartburg gefunden und ausgestellt wurde. Diese Harfen sind typische
Instrumente der Frührenaissance; der Name »gotisch«
bezieht sich nicht auf die Zeit, sondern auf die schmale, aufstrebende
Form mit den beiden typischen gotischen Nasen. Im Mittelalter wurden
etwas kleinere Instrumente mit noch weniger Saiten und weniger tiefen
Tönen, aber etwa gleichem geringen Saitenabstand gespielt. Das
hier gespielte Instrument ist ein Nachbau von Frank Sievert aus dem
Jahr 1996.
Arpa doppia
Die hier gespielte kleine italienische Doppelharfe geht auf Vorbilder
etwa um 1500 bis 1550 zurück. Sie verfügt über zwei
parallele Reihen von Saiten, die versetzt zueinander angeordnet sind.
Hiervon ist eine Reihe diatonisch gestimmt wie bei der einreihigen
Harfe, die zweite Reihe, welche sich von der spielenden Hand aus
gesehen hinter der ersten
befindet, enthält die chromatischen Ergänzungen. Damit
besitzt die Harfe sozusagen schwarze und weiße Tasten und deckt
das gesamte musikalische Spektrum ab. Dies wird jedoch durch den
technischen Aufwand erkauft, daß der Spieler, um an die
chromatischen Saiten zu gelangen, durch die diatonische Reihe
hindurchgreifen muß. Bei dem hier gespielten Instrument handelt
es sich um einen Nachbau eines italienischen Vorbilds von Tim Hobrough
aus dem Jahr 1981.
The instruments
Wartburg harp
This small »Gothic« harp is a copy of a Renaissance harp of
the period around 1450 which was found in Wartburg castle. Such harps
are typical instruments of the Early Renaissance, the term
»Gothic« referring not to the period but to the narrow,
soaring form with the two typical Gothic noses. In the Middle Ages,
somewhat smaller instruments were played which had even fewer strings
and fewer low notes but more or less the same small string spacing. The
instrument played here is a copy made by Frank Sievert in 1996.
Arpa Doppia
The small Italian double harp played here goes back to models of about
1500-1550. It has two parallel rows of strings arranged in transposed
order to each other. One row is diatonically tuned, as with single row
harps; the second row, which, from the perspective of the player, is behind
the first, contains the chromatic supplementation. The harp thus
possesses, so to speak, black and white keys and covers the whole
harmonic range. This is paid for, however, by the technical necessity
of the player having to reach through the diatonic row in order to get
to the chromatic strings. The instrument played here is a copy of an
Italian model and was made by Tim Hobrough in 1981.
Dank
Für vielfältige Unterstützung bei diesem Projekt und
drumherum danke ich Klaus Peill, Ralf Kleemann, Frank Sievert für
seine grandiose Harfe, Rüdiger Oppermann, Yvonne Jäckle,
Susanne Paas, — und vor allem Sebastian !
Thanks
... for manifold help for this project and everything else to Klaus
Peill, Ralf Kleemann, Frank Sievert for his grandiose harp,
Rüdiger Oppermann, Yvonne Jäckle, Susanne Paas, — and,
above all, Sebastian !
Produziert von /Produced by Almut Kirchner
Aufnahme, Mixing & Mastering: Tonstudio Parzival, Waldsee
Booklet: Ralf Kleemann
Photos: Jan Debec (Cover), Thilo Müller (Booklet), Studio Litzenrath (Vita)
Kontakt& Vertrieb:
VERLAG DER SPIELLEUTE
Langlosenweg 14 D-64385 Reichelsheim
www.spielleute.de