Florizet Vox Dulcisonans
Cantiones aus dem Moosburger Graduale von 1360
EST! · Cantorey Heiligenberg


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medieval.org

2000
Verlag der Spielleute CD 0006

11. bis 13. März 2000
Heiligenberg 1, D-84337 Schönau / Ndb.




1 - Deinceps ex nullade nativitate Domini   [4:59]

2 - Ecce nomen Dominide nativitate Domini   [3:24]

3 - Johannes von PERCHHAUSEN: Flos campide beata virgine   [4:36]

4 - Johannes von PERCHHAUSEN: Ad cultum tuae laudisde beata virgine   [3:38]

5 - In natali summi regisde nativitate Domini   [2:39]

6 - Mater summi Dominide beata virgine cantio   [7:21]

7 - Johannes von PERCHHAUSEN: Castis psallamus mentibuscum episcopus eligitur   [1:49]

8 - Ecce iam celebriain die sanctorum innocentium   [1:51]

9 - Tribus signisin die sancto et in octava epiphaniae cantio   [4:33]

10 - Laetatur turba puerorumde nativitate et beata virgine   [2:33]

11 - Ave virgo mater intemeratade beata virgine   [4:22]

12 - Johannes von PERCHHAUSEN: Florizet vox dulcisonansBenedicamustropus   [3:07]

13 - Nove lucis hodiede beata virgine   [3:09]

14 - Fulget diesde nativitate Domini   [1:07]

15 - Evangelizo gaudiumgeneralis ad praedictas festivitates   [1:42]

16 - Ave gemma confessorumSequenz   [2:22]

17 - Procedentem sponsumBenedicamustropus   [1:57]





EST!
Ensemble für Musik des späten Mittelalters

Walter Waidosch

Monika Mauch • Sopran
Simon Art • Tenor
Irmgard Waidosch • Sopranflöte in c, Tenorflöte in c, Altflöten in g & f
Sabine Kreutzberger • Viellen
Walter Waidosch • Citola, Vihuela, Psalterium
Mike Turnbull • Tamburin, Urdu, Bogenharfe, Rahmentrommel
Peter Neubäcker • Colascione



Cantorey Heiligenberg

Elisabeth Klenk
Teresa Klenk
Susanne Mühlthaler
Teresa Schnellberger
Selina Stadler
Isabella Stadler
Friedemann Brennecke
Elias Horsch
David Röhrig
David Stadler
Leopold Waidosch



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Das Moosburger Graduale von 1360


1. Die Quelle

Eine der bedeutendsten Musikhandschriften der wittelsbachisch-bayerischen Kulturregion im späten Mittelalter entstand um 1360 in Moosburg. Die kleine Stadt am Zusammenfluß von Isar und Amper, am Wege zwischen dem alten Bischofssitz Freising und der herzoglichen Residenzstadt Landshut gelegen, besaß neben ihrem eindrucksvollen Dom das Kollegiatstift St. Castulus. Der Dekan Johannes von Perchhausen, ein Kanoniker, Lehrer und Präfekt dieses Stiftes, initiierte das prächtige, mit Inkunabeln reich verzierte Werk, welches vom Landshuter Stadtschreiber Ernst angefertigt wurde. Ein Schatz an Gesängen zu Ordinarium und Proprium der Messe zeugt vom hohen Niveau der liturgischen Musik im Raum München-Freising-Landshut, zahlreiche Sequenzen, Hymnen und Tropen vom Reichtum der freien geistlichen Lyrik im vortridentinischen Europa.

Einzigartig und für die Phänomenologie des Spätmittelalters nicht zu überschätzen ist das Cantionarium der Handschrift: eine Sammlung von 33 Liedern, in bestem Mittellatein gedichtet und in einstimmigen Melodien ohne rhythmische Fixierung in gotischer Hufnagel-notation verfaßt. Sie besteht zum großen Teil aus Texten zu den durchaus karnevalesken Schülerfesten des Moosburger Konviktes zwischen Weihnachten und dem Dreikönigsfest. In dieser Zeit besaß der niedere Klerus und die Schülerschaft Narrenfreiheit: ein Schülerbischof wurde erwählt und feierlich inthronisiert, Eselsmessen und sonstiger Unsinn gefeiert, das Unterste zu oberst gekehrt, Luft abgelassen. Um nun seine „Plebs Moospurge doctrinata“, wie er liebevoll sein Schulvölkchen betitelte, von allzu lasziven weltlichen Texten abzubringen, sammelte und verfaßte Johannes von Perchhausen Lieder, von denen manche wohl im gesamten Europa der Zeit gesungen, gespielt und getanzt wurden, und unterlegte ihnen geistliche Lyrik vom Feinsten. Im stilistischen Induktionsfeld von italienischer Lauda und französischem Cancion entstand so ein Cantionar, das, in sinnfälliger Ergänzung zu den spätgotischen Baudenkmälern dieser europäischen Region, Leben und Kultur der Epoche in einzigartiger Lebendigkeit und mitreissendem Melodienreichtum kommentiert und musikalisch beleuchtet.

Einzelne Cantiones der Handschrift konnten auf älteres französisches Material u.a. aus St. Martial zurückgeführt werden. Die eingängigen, fast volkstümlich anmutenden Melodien scheinen durchaus – ähnlich den toskanischen und umbrischen Lauden – populäres Liedgut, manche auch die kaum überlieferte Tanzmusik des späten Mittelalters widerzuspiegeln, sofern sie nicht den modalen Tonlandschaften des täglich praktizierten einstimmigen Chorals entsprungen sind. Aus diesen Quellen sollte das Repertoire seine Faszination auf die Jugend ziehen. Und diese Attraktivität besitzt es noch heute, obwohl sie, trotz einiger Beachtung seitens der Musikwissenschaft in Publikationen von Spanke, Lipphardt und vor allem einer umfassenden Dissertation von F. A. Stein neben der von D. Hiley besorgten Faksimileedition, wenig Niederschlag im Musikleben finden konnte. Allein Konrad Ruhland und seine „Capella Antiqua München“ widmeten sich der musikalischen Wiedererweckung des Graduales in zahlreichen Konzerten, Veröffentlichungen und der Einspielung von Teilen des Repertoires. Ihren Aktivitäten verdanken wir, auf diesen Schatz aufmerksam geworden zu sein und eine eigene Interpretation von hauptsächlich bislang unveröffentlichten Cantiones mit dieser Neuaufnahme anbieten zu können.


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2. Grundlegende Überlegungen zur Interpretation

Da die Lieder ohne Rhythmus notiert, die Texte aber in mehr oder weniger strengem Metrum verfaßt sind, ist ein Bearbeitung der Überlieferung nicht nur Voraussetzung für die Wiederbelebung der Musik: sie erscheint adäquat bei der Fragmenthaftigkeit der Notation zu einer Zeit, als mündliche Tradierung sowie dazu eine auf höchstem Niveau stehende Kunst der Improvisation des ausführenden Musikers die Grundlage der Musikkultur darstellte. Entsprechend der Vielfalt metrischer Muster in den Texten des Manuskriptes sollen vom freien, melismatischen Psalmodieren bis zur tänzerischen, rhythmisch pointierten Interpretation alle überlieferten Möglichkeiten mittelalterlicher „Varietas“ ausgeschöpft werden. Gerade diese Elemente bieten, bei aller gebotenen musikologischen Sorgfaltspflicht gegenüber der Quelle, für Musiker des 21. Jahrhunderts Anreize, die weit über die konservatoriumsmäßige Wiedergabe einer gewissen Menge entschlüsselbarer Noten hinausgeht: die nur als tägliche Merkhilfe notierten dürftigen Zeilen, die der Schreiber 1360 festhielt, evozieren weit mehr als ihre „wörtliche“ Wiedergabe. Sie erhalten ihre Faszination für unsere Kultur an der Schwelle des 3. Jahrtausends aus der Kreuzung von wiederentdeckten kulturellen Wurzeln, die ein im 14. Jahrhundert durchaus geeintes Europa prägten, mit dem kreativen und improvisatorischen Wissen und Können von Musikern unserer Zeit.


3. Zur Aufführungspraxis

Unsere Einspielung von 14 Cantiones des Repertoires sowie zweier Benedicamustropen und einer Sequenz stellt die Melodien in zweifacher Bearbeitung dar: Zum ersten durch ihre Rhythmisierung, gewonnen aus der Diskussion vor allem der vorliegenden Textmetrik, aber auch in der Berücksichtigung von Schreibgewohnheiten und Schriftbild der Handschrift (Ligaturen etc.) sowie mensural gebundener rhythmischer Floskeln in der überlieferten mehrstimmigen Musik des Trecento. Selbstverständlich muß jede Rhythmisierung eine Hypothese bleiben, jederzeit veränderbar im Spannungsfeld von gelehrtem „musicus“ und interpretierendem „cantor“.

Zum zweiten wurden die schlichten Melodien durch verschiedene, der spätmittelalterlichen Praxis entsprechende Möglichkeiten von Mehrstimmigkeit vokaler und instrumentaler Art ergänzt: von der einfachen Unterlegung des Repertoires mit Bordun, Wechselbordun und schweifendem Bordun bis zum Falsobordone, der, zwar für Italien erst im Quattrocento belegbar, durchaus als improvisierte Mehrstimmigkeit bereits zu früheren Zeiten in Gebrauch gewesen sein könnte. Organumsätze werden in der Moosburger Handschrift bei vier Werken notiert und finden in unserer Interpretation als alte Form der Mehrstimmigkeit – vor allem im der Cantio verwandten Conductus – reichlich Anwendung.

Auf den Einsatz von Instrumenten des Trecento (Flöten, Viellen, Lauten, Citolen, Psalterium, Perkussion etc.) haben wir im Sinne einer großzügigen Interpretation des vor allem ikonographischen Quellenmaterials bei Liedern dieser Art nicht verzichtet.

Die Einbeziehung des spätmittelalterlichen Instrumentariums erscheint uns in seiner klanglichen Farbigkeit nicht nur eine Ergänzung und Unterstützung des Vokalen, sondern darüber hinaus aufführungspraktische Notwendigkeit für eine adäquate Interpretation von Musik dieser Art und Faktur des 14. Jahrhunderts.


4. Die Cantiones

Die von Decanus Johannes gesammelten Lieder folgen alle einem ebenso alten wie in der schriftlosen Praxis sinnvollen und bis heute benutzten Formprinzip: eine Reihe unterschiedlich langer und metrisch heterogener Strophen werden von einer „Ripresa“, d.h. einem Refrain mit wechselndem oder gleichem Text eingerahmt und strukturiert. Die responsoriale Aufgabenverteilung in Vorsänger bzw. Scola im Besitz von Gesamttext und Noten gegenüber dem nur mit der Text- und Melodiemarke des Kehrverses vertrauten Plenum ist intendiert. Wir haben für vier Cantiones der vorliegenden Aufnahme eine kleine Kinderkantorei in diesem Sinne hinzugezogen, um uns einer hypothetischen Aufführungssituation im spätmittelalterlichen St. Castulus ein wenig anzunähern.

Darüber hinaus versuchen wir, den vielfältigen musikalischen Einflüssen, die sich offenkundig im Material der Melodien abbilden, in vielgestaltigen Besetzungen und Arrangements gerecht zu werden. Modale Assoziationen zu Byzanz und dem altgriechischen „Dorisch“ verbunden mit einer Textmetrik in wechselnden Vierer- und Fünferbetonungen wie beispielsweise bei „Mater summi Domini“ erinnern an Refrainlieder mit Vorsänger und Plenum, wie sie noch heute in gewissen Bergtälern Zentralkretas bei sonntäglichen Zusammenkünften, im gleichen Modus und entsprechender Rhythmik, gesungen und gespielt werden. Ähnlich lassen sich bei der Analyse einiger der eingespielten Lieder die europäischen Reise- und Pilgerstrassen der Musik und ihrer Ausdrucksformen wiederfinden und nachwandern: von fröhlichen Tanzweisen wie „Castis psallamus“ oder „Deinceps ex nulla“ über schlichte und innige Weihnachtslieder in der Art von „Nove lucis hodie“ bis zu den filigranen metrischen und melodischen Strukturen bei „Ad cultum tuae laudis“ oder dem zauberhaften Marienlied „Flos campi profert lilium“. Schlicht erzählende Texte wie „Tribus signis“ mit seinen Motiven zum Dreikönigsfest oder das weihnachtliche „In natali summi regis“, in dessen letzter Strophe der Lector zu einer guten Lesung aus der Heiligen Schrift aufgefordert wird, wechseln sich ab mit nahezu ekstatischen Melodien wie dem Benedicamus Tropus „Procedentem sponsum“, dem einzigen Original der vier in der Handschrift überlieferten zweistimmigen Organumsätze.

Ein bemerkenswertes Element der ansonsten so ernsthaften Sammlung bilden kleine Witze wie das pädagogisch wertvolle Deklinieren des Anfangswortes „Mater“ vom Nominativ zum Vokativ durch die Strophen von „Mater summi Domini“ oder das Akrostichon „castulus“, welches sich aus den Anfangssilben der Strophen bei „Castis psallamus“ lesen läßt: kleine Hinweise auf den Alltag der jugendlichen Musiker in Moosburg, die in den aufgezeichneten Liedern ihrem Temperament entsprechende Ausdrucksmöglichkeiten finden konnten. Und sogar nach über 600 Jahren lassen diese sich noch sinnfällig entdecken, vom Musiker ebenso wie von seiner Zuhörerschaft.

Heiligenberg, im März 2000

Walter Waidosch