Das Rostocker Liederbuch
© Hinstorff Verlag 2013
[37:30]
WIL GI HOREN ENEN SANCK?
Ausgewählte Stücke aus dem „Rostocker Liederbuch“
Sie ist klein und recht unscheinbar - gleichwohl zählt die
Handschrift Mss. philol. 100/2 zu den wertvollsten Schätzen der
Rostocker Universitätsbibliothek.
Die Rede ist vom „Rostocker Liederbuch“, das in der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts im Umkreis einer norddeutschen
Universität entstanden ist und mit seinen über 30 Melodien
einen vorzüglichen Einblick in die studentische und
städtische Musikpraxis des späten Mittelalters gibt. Hinzu
kommt, dass die Sammlung außerordentlich bunt ist: Alle Themen,
die das Herz der studiosi und
der Hansekaufleute höher schlagen ließen, finden sich hier -
Liebe, Tanz und Wein, Politik und Religion; Witziges steht neben
Traurigem, Ernstes neben Parodistischem, Erhabenes neben Zotigem. Und
wie es sich für die weltoffenen, gelehrten Besitzer des
Liederbuchs gehört, verbindet die Handschrift das Lateinische der
Universität sowohl mit der niederdeutschen Regionalkultur als auch
mit musikalischen Importen aus dem süddeutschen Raum und aus
Frankreich.
Seit 2006 existiert eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe der
Universitäten Rostock und Kiel sowie der Hochschule für Musik
und Theater Rostock (HMT), die es sich zur Aufgabe gemacht hat, diese
besondere Handschrift einer breiteren Öffentlichkeit
zugänglich zu machen (insbesondere auch durch die Internetseite www.rostocker-liederbuch.de).
Die vorliegende CD präsentiert nun erste Ergebnisse dieser
langjährigen Arbeit. Hierfür ist eine Auswahl der
interessantesten Lieder von Studierenden der HMT unter der Leitung von
Prof. Dr. Franz-Josef Holznagel und Prof. Dr. Hartmut Möller
erarbeitet und eingespielt worden; die Arrangements stammen von Rainer
Böhm (vom Mittelalter-Ensemble alta musica),
Sandra Havenstein und Prof. Dr. Hartmut Möller.
Es musizieren:
Sandra Havenstein (Tenor- und Sopranblockflöte),
Neasa Ní
Bhriain (Viola),
Devon Rempel (Gitarre),
Laura Saleh (Gesang) und
Tim
Wendland (Gesang);
sie werden bei einem Stück unterstützt von
Universitätsmusikdirektor
Thomas Koenig (Orgel).
Eine studentische Lyriksammlung des späten Mittelalters - nach
über 500 Jahren wird sie von Rostocker Studierenden wieder zum
Klingen gebracht.
I.
Später Minnesang und burgundische Tanzmusik
1. Scheyden, du vil sendighe not! [2:47] Nr. 1 / 38a
II.
Kulturkontakt und Gattungsinterferenz
2. In nemore viridi [2:11] Nr. 16
3. De jungelin sprack [1:46] Nr. 17
III.
Makkaronische Poesie
4. Amor ist ein lustlich walt [3:40] Nr. 43
IV.
Politische Satire im Medium moderner Mehrstimmigkeit
5. Dixit, Dixit / Quoniam secta [3:44] Nr. 60 |
Philippe de VITRY
V.
Ein Lied für den Braunschweiger Herzog Otto den Jüngeren
6. Lustlich hat god ghetzyret [4:12] Nr. 5 |
Hinrick STICKER
VI.
Ein Südtiroler Tagelied und seine Rezeption in Norddeutschland
7. Wach auf mein hort! [2:21]
Oswald von WOLKENSTEIN
8. Wach auf mein hort [1:03]
Orgelsatz aus PAUMANNS Ars organisandi
9. Wach uff myn hort, [1:54]
Nr. 19 | Version des Rostocker Liederbuches
VII.
Zur Erfolgsgeschichte eines Schwankliedes
10. Der werld der hat enen dommen mod [2:04] Nr. 15 | Glogauer Liederbuch
VIII.
Geld und Liebe
11. Ik quam to er ghegangen [1:59] Nr. 33
IX.
Eines der ältesten niederdeutschen Weihnachtslieder und seine lateinische Vorlage
12. 6 Corde natus ex parentis [0:42] Nr. 6
13. 6 Eyn hillich dach [3:59] Nr. 6
X.
Klänge aus dem Studentenkeller
14. Woldestu yo min bolekin wezen [2:08] Nr. 37
15. Vader myn [1:22] Nr. 55
16. De schriuer [1:40] Nr. 49
I.
Nr. 1/ 38a Scheyden, du vil sendighe not!
Später Minnesang und burgundische Tanzmusik
Dieses Lied eines unbekannten Autors zählt zur Gattung der sog.
Werbelieder, in denen sich ein Mann um eine geliebte Dame bemüht.
Im „Rostocker Liederbuch" wurde der Text
gleich zweimal notiert. Auf der Rückseite von Blatt 30 (Bl. 30
verso) findet sich eine dreistrophige Fassung ohne Noten, die allem
Anschein nach aus dem süddeutschen Raum importiert worden ist (Nr.
38a). Auf der Vorderseite von Blatt 1 (Bl. 1 recto) wurde dagegen nur
die erste Strophe eingetragen (Nr. 1). Diese Version des Liedes bietet
eine Melodie, die nur im „Rostocker Liederbuch" überliefert
wird, aber ganz deutlich in der Tradition der burgundischen Tanzmusik
(der sog. basse dance) steht.
Der Vergleich zwischen den beiden Rostocker Fassungen zeigt, dass die
Nr. 1 an mehreren Stellen durch die auffällige Wiederholung von
Wortgruppen charakterisiert ist, die den Sinn des Textes nicht
verändern, aber das Strophenschema merklich abwandeln. Diese
Differenz erklärt sich vermutlich daraus, dass der niederdeutsche
Text von Nr. 1 an eine französische Tanzmelodie angepasst worden
ist. Diese Verbindung aus überregionalen und regionalen
Traditionen ist typisch für eine ganze Reihe von Stücken aus
dem „Rostocker Liederbuch".
Eingespielt ist eine dreistrophige Fassung mit dem Text und der Melodie
von Nr. 1 sowie den beiden zusätzlichen Strophen von Nr. 38a;
dabei sind Text und Melodie von Nr. 1 an die Strophenform von Nr. 38a
anpasst worden.
II.
Nr. 16 / Nr. 17 In nemore viridi / De jungelin sprack
Kulturkontakt und Gattungsinterferenz
Zu diesen Stücken, die einen Kontakt zwischen regionalen und
überregionalen Traditionen widerspiegeln, gehören auch die
Lieder Nr. 16 und 17.
„Bruder Steffanus hat die beiden vorher eingetragenen Lieder
gestiftet mit großer Liebe." Diese Beischrift zeigt an, dass
diese beiden anonym überlieferten Stücke eine Einheit bilden,
welche dieselbe Person, ein unbekannter Steffanus frater,
zu dem Liederbuch beigesteuert hat. Bruder Steffanus spannt damit zwei
Lieder zusammen, die zwar dieselbe Strophenform und eine weitgehend
übereinstimmende Melodie besitzen, die sich jedoch in der Sprache
und im Inhalt deutlich unterscheiden. Während es sich bei der Nr.
16 um eine Variante der lateinischen Pastourellen-Tradition handelt,
gehört die Nr. 17 (wie die Nr. 1) zur Gattung des
deutschsprachigen Werbeliedes.
Pastourellen erzählen von der erotischen Begegnung eines Ritters
(oder eines Klerikers) mit einem jungen Mädchen außerhalb
der reglementierten Welt der Höfe — und so inszeniert denn
auch das Lied Nr. 16 das Aufeinandertreffen des Paares in nemore viridi
(„im grünen Wald"). Insoweit kommt der Text den Erwartungen,
die an diese Gattung gestellt werden, sehr entgegen. Anders als in der
Tradition wird jedoch die Verführungsrede des miles
in einen regelrechten Heiratsantrag überführt. Dieses Motiv
ist der klassischen Pastourelle fremd; stattdessen ist es typisch
für eine bestimmte Ausprägung des deutschsprachigen,
spätmittelalterlichen Werbeliedes, in dem die Annäherung an
die Dame mit einem Eheversprechen des Sängers einhergeht. Diese
Grundkonstellation wird in dem nachfolgenden Lied Nr. 17 nahezu
idealtypisch realisiert.
Wie diese beiden Stücke zusammenhängen, ist unsicher: Die
Reihenfolge des Eintrags im „Rostocker Liederbuch" suggeriert,
dass die lateinische Nr. 16 das Vorbild für die deutsche Nr. 17
ist; die merkwürdige (und nur im „Rostocker Liederbuch"
bezeugte!) Überformung der Pastourellen-Situation durch die
deutschsprachige Liebeslyrik spricht hingegen für die Gegenthese,
dass das lateinische Lied nach dem Vorbild des niederdeutschen
gestaltet wurde.
Eingespielt sind beide Lieder mit den Melodien, die den Texten
unterlegt worden sind. Nr. 16 weist dabei im Unterschied zu Nr. 17 an
einigen Stellen tonreiche Verzierungen (Melismen) auf.
III.
Nr. 43 Amor ist ein lustlich walt
Makkaronische Poesie
Das anonym überlieferte Lied Nr. 43 ist ein Lied über Amor - ein Lobpreis auf die Macht der
Minne und eine Klage über die Cleffer,
die Schwätzer, welche die Liebenden mit Argwohn betrachten und
behindern. Auch dieses Stück schlägt eine Brücke
zwischen der lateinischen und der volkssprachigen Liedkultur, handelt
es sich doch um einen lateinisch-deutschen Misch-text, bei dem nach dem
Muster der sog. makkaronischen Poesie lateinische und volkssprachige
Zeilen regelmäßig wechseln. Zudem verknüpft das Lied
Motive der mittellateinischen und der deutschsprachigen Liebeslyrik. So
sind Aussagen über die Macht des Liebesgottes Amor besonders oft
in der lateinischen Literatur anzutreffen, während die Klage
über die Schwätzer vor allem auf deutschsprachigen
Traditionen beruht. Ungewöhnlich ist schließlich die
metrische und musikalische Bauform des Liedes. Sie kombiniert eine
Strophe, die auf der Wiederholung zweier metrisch-musikalisch
identischer Teile beruht, mit einem ebenfalls zweiteiligen Refrain.
IV.
Nr. 60 Philippe de Vitry Dixit, Dixit / Quoniam secta
Politische Satire im Medium moderner Mehrstimmigkeit
Die Nr. 60 ist ein lateinisches Stück, das sich in
verschlüsselter Form auf ein zeitpolitisches Ereignis am Hof des
Königs von Frankreich bezieht, genauer gesagt auf den Aufstieg und
den Fall des königlichen Beraters Enguerran de Marigny im Jahre
1314. Im Unterschied zur Mehrzahl der übrigen Texte aus dem
„Rostocker Liederbuch" geht es nicht auf die Tradition der
einstimmigen Liedkunst zurück, sondern greift als Kulturimport
eine mehrstimmige und mehrtextige Motette des französischen
Komponisten Philippe de Vitry (1291 —1361) auf, die international
sehr weit verbreitet ist. Nr. 6o übernimmt aus dem dreistimmigen
Liedsatz „Tribum"/„Quoniam secta" / „Merito" eine
Stimme (den sog. Motetus) als Unterstimme und fügt dieser als
Oberstimme eine in Einzelnoten aufgelöste Version des
ursprünglichen Motettentenors hinzu, die überdies mit einem
Text unterlegt wird, der nur im „Rostocker Liederbuch" bezeugt
ist. Von daher ist es unwahrscheinlich, dass diese reduzierte Version
der Motette von Philippe de Vitry stammt. Unklar ist auch, wann die
Textierung der Oberstimme entstanden ist und wie sie ins Liederbuch
gelangte. Möglicherweise ist sie erst im Umkreis der Rostocker
Sammler verfasst worden. Ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem
alten und dem neuen Text ist heute nicht mehr rekonstruierbar.
Eingespielt ist die Rostocker Version der Vitry-Motette mit der
Verdoppelung der Oberstimme in der Unteroktave als Ersatz für den
fehlenden Tenor.
V.
Nr. 5 Hinrick Sticker Lustlich hat god ghetzyret
Ein Lied für den Braunschweiger Herzog Otto den Jüngeren
Auch das Lied Nr. 5 behandelt Politisches; im Unterschied zu dem
international verbreiteten Philippe de Vitry-Satz gehört es aber
in den Kontext einer Gruppe von Liedern, die sich mit
einem norddeutschen Herrschaftskonflikt des 15. Jahrhunderts
beschäftigen. Die Rede ist von einem Aufstand gegen Herzog Otto
den Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg in den Jahren 1464/65,
der außer in Nr. 5 noch in zwei weiteren Stücken des
Liederbuchs (Nr. 3 u. 4) thematisiert wird. Otto ist der zweite Sohn
des Herzogs Friedrich und übernimmt jung die Herrschaft; sofort
nach seinem Regierungsantritt will eine Gruppe einflussreicher Adeliger
die mutmaßliche Schwäche des unerfahrenen Landesherrn
nutzen, um ihre eigenen Rechte auszuweiten. Als Initiatoren des
Aufstandes gelten die Herren von Bartensleben und von der Schulenburg,
daneben sind die Herren von Bülow und Gustedt als Mitglieder
dieser Koalition bezeugt. Daraufhin belagert Otto mit einem Heer die
Wolfsburg an der Aller, den Stammsitz derer von Bartensleben, wo sich
auch einige weitere Anhänger des Bündnisses aufhalten.
Über die Dauer und den Verlauf dieser kriegerischen
Auseinandersetzung wird kaum etwas überliefert, sicher ist
lediglich, dass Otto aus ihr als Gewinner hervorgeht. Außerdem
verlieren die Herren von Bülow die Grafschaft Hitzacker als Strafe
für ihren Verstoß gegen die Lehnspflicht.
Nr. 5 berichtet (anders als Nr. 3 und 4) von den Ereignissen im
Rückblick; der Text präsentiert sich dabei als Rede eines
Ich-Sprechers, der das Geschehene nicht nur erzählt, sondern aus
der Sicht der herzoglichen Partei bewertet. In der vorletzten Strophe
empfiehlt er sich seinem adeligen Publikum als Parteigänger Ottos
und nennt selbstbewusst seinen Namen (Hinrick Sticker).
Eingespielt ist der Eingangsteil mit dem Lobpreis auf Otto (Strophen I—IV),
dann folgen ausgewählte Strophen, die von der
Erhebung der Bundesherren gegen den Herzog erzählen (V—VI),
sowie der Schlussteil mit den Strophen XI und XII.
VI.
Nr. 19 Oswald von Wolkenstein Wach auf myn hort
Ein Südtiroler Tagelied und seine Rezeption in Norddeutschland
Ein Kulturimport besonderer Qualität ist das Tagelied Nr. 19, das von der Trennung zweier
Liebender nach einer gemeinsam verbrachten Nacht erzählt. Es
beruht auf einer mehr-stimmigen Komposition des Südtiroler
Adeligen Oswald von Wolkenstein (1376/77-1445) und gelangt vermutlich
um das Jahr 1485 über die Reichsstadt Nürnberg und das dort
entstandene „Lochamer Liederbuch" in den niederdeutschen
Sprachraum. Auf der ,Wanderung` des Liedes von Südtirol nach
Rostock ist der Text leicht an das Niederdeutsche angepasst worden.
Ferner wird das Lied in musikalischer und metrischer Hinsicht
vereinfacht: Die Reimklänge sind reduziert, und aus dem
mehrstimmigen Satz wird lediglich die Tenor-Stimme übernommen.
Außer-dem ist die Sprechsituation verändert: Statt eines
Dialogs zwischen Ritter und Dame — wie im Oswald-Lied —
findet sich im „Rostocker Liederbuch" nur der Monolog des Mannes.
Auch dieses Stück findet sich (wie die Nr. 1 / 38a) zweimal im
„Rostocker Liederbuch". Auf Bl. 35 recto wurde nur die
Tenor-Stimme ohne Text aufgezeichnet, während auf Bl.19 verso die
Melodie und der neue Text stehen. Die Rezeption des Tons im
„Rostocker Liederbuch" verdeutlicht einmal mehr die enorme
Verbreitung von Oswalds Lied, das u.a. auch Eingang in
spätmittelalterliche Orgelbücher findet (wie in Conrad
Paumanns> „Ars organisandi"); außerdem zeigt sich hier ein
weiteres Mal, dass das „Rostocker Liederbuch" einen
hochinteressanten Schnittpunkt unterschiedlicher literarischer und
musikalischer Traditionen darstellt.
Eingespielt sind die Rostocker und die Südtiroler Fassung des
Liedes sowie der Orgelsatz aus Paumanns „Ars organisandi".
VII.
Nr. 15 Der werld der hat enen dommen mod
Zur Erfolgsgeschichte eines Schwankliedes
Das Schwanklied vom listigen Bauern, der es schafft, mit der Ehefrau
seines Lehnsherrn das Bett zu teilen und dann auch noch den
entrichteten Liebeslohn wiederzuerlangen, findet
sich nicht nur im „Rostocker Liederbuch", sondern gleich in einer
ganzen Reihe unterschiedlicher Text- und Melodiezeugen des 15. und 16.
Jahrhunderts. Die früheste Bezeugung der Melodie stammt aus dem
„Glogauer Liederbuch" (vom Ende des 15. Jahrhunderts), noch
älter ist eine Federprobe mit dem Text der ersten Strophe, die
sich in einem Tübinger Horaz-Druck von 1486 findet. Diese
hingeworfene Notiz verrät, dass das Stück aus dem
hochdeutschen Gebiet stammt; es muss aber sehr schnell eine große
Wirkung entfaltet haben, die den ganzen deutschen Sprachraum und auch
das Niederländische umfasst und bis ins 18. Jahrhundert reicht.
Manche Versionen der Melodie schaffen sogar den Sprung nach
Skandinavien und bis nach Amerika. Die enorme Verbreitung des Liedes
mag damit zusammenhängen, dass der humorvolle Inhalt in einer sehr
populären Strophenform (dem sog. Lindenschmidt-Ton) und mit einer
eingängigen Melodie dargeboten wird.
Bei der Rostocker Fassung handelt es sich um eine niederdeutsche
Bearbeitung des ursprünglich hochdeutschen Textes, die hier ohne
Melodie notiert ist. Der in der letzten Strophe genannte Herzog
Heinrich (hertich hinrik) aus
Braunschweig, über den berichtet wird, er habe dieses Lied
gesungen, kann ebenso wenig identifiziert werden wie der Johannes, der
zu Ehren seiner geliebten Elisabeth dem Liederbuch diesen Text
hinzufügte.
Eingespielt ist die mehrstimmige Fassung des „Glogauer Liederbuchs"
(mit dem Text aus der Tübinger Federprobe).
VIII.
Nr. 33 Ik qwam to er ghegangen
Geld und Liebe
Erzählt die Nr. 15 von einem Liebesabenteuer, das aus der Sicht des Mannes erfolgreich
verlaufen ist, so wird in Nr. 33 die Geschichte eines Scheiterns
präsentiert. Das nur im „Rostocker Liederbuch"
überlieferte niederdeutsche Stück greift am Anfang auf die
Gattung der Einlasslieder zurück, in denen ein Liebhaber abends an
die Türe seiner Dame klopft. Nr. 33 unterläuft indes die
Erwartung, die der Gattungsanklang erzeugt, indem die Handlung einen
gänzlich anderen Verlauf nimmt: Der Ich-Sprecher gelangt zwar
schnell in das Zimmer seiner Angebeteten, wird aber umso zügiger
wieder hinauskomplimentiert. Danach kann er mit Genugtuung feststellen,
dass es seinem Nebenbuhler genauso ergeht wie ihm. Auch dieser muss
nach kurzem Stelldichein das Feld räumen, und zwar für einen
zahlungskräftigen Kleriker (papen), der für ein Treffen mit der Dame die enorme Summe von 20 Mark zahlen kann.
Die Überlieferung des Stücks stand unter keinem guten Stern:
Der Text ist in der Handschrift sehr stark zerstört, und die
Melodie konnte nur mühsam aus einem zwischen die Zeilen
einge-schobenen Notat rekonstruiert werden.
Eingespielt sind die (leidlich erhaltenen) Strophen II—IV sowie VIII—X.
IX.
Nr. 6 Eyn hillich dach und Corde natus ex
parentis
Eines der ältesten niederdeutschen Weihnachtslieder und
seine lateinische Vorlage
Bei dem Lied Nr. 6 handelt es sich um ein niederdeutsches Weihnachtslied aus dem 15.
Jahrhundert, in dessen volkssprachigen Refrain ein lateinischer Vers
eingefügt wurde. Es verweist auf das Weihnachtsgeschehen und
bezieht sich dabei auf die Bibel (scrift),
im Refrain wird dann Christus als Erlöser angerufen. Dieses
Stück ist insofern einzigartig, als es sich hierbei um eines der
ältesten Weihnachtslieder in niederdeutscher Sprache handelt.
Dabei ist die Melo-die dem lateinischen Hymnus Corde natus ex parentis
entnommen worden, auf dessen Anfang der niederdeutsche Liedtext auch
anspielt. Gegen Ende löst sich dieser aber sehr von seiner
Vorlage: Insbesondere die Strophe V, ein Ausfahrtsegen, hat nur noch
wenig mit dem Hymnus gennein; möglicherweise ist die Strophe auch
separat gesungen worden.
Dass in einem weltlichen Liederbuch auch religiöse Texte stehen,
ist nichts Außergewöhnliches (ebenso wie das umgekehrte
Phänomen, dass sich in geistlichen Liedersammlungen der Zeit
gelegentlich weltliche Stücke finden).
Eingespielt sind vier Strophen von Nr. 6 und die erste Strophe des lateinischen Hymnus.
X.
Nr. 49 De schriuer | Nr. 37
Woldestu yo min bolekin wezen | Nr. 55
Vader myn
Klänge aus dem Studentenkeller
Die Nummern 49, 37 und 55 repräsentieren einfache lyrische
Gebrauchsformen zur Unterhaltung in niederdeutscher Sprache; sie
entstammen allem Anschein nach dem studentischen Milieu.
Nr. 49 ist eine Einzelstrophe mit Melodie, die von den Liebesabenteuern
eines Schreibers handelt; möglicherweise steht dieses Lied im
Zusammenhang mit der im Mittelalter oft diskutierten Frage, wer der
bessere Liebhaber sei: der intellektuelle Kleriker oder der standhafte
Ritter. Das etc. am Ende des kurzen Eintrages deutet an, dass es
weitere Strophen gegeben haben muss, die sich jedoch nicht erhalten
haben.
Bei Nr. 37 verdeutlicht der lateinische Nachsatz, wie das Lied
vorgetragen werden sollte. Ein junger Mann schlägt einer Dame vor,
ihm nach der Überreichung einer Gabe ihre Zuneigung zu schenken,
woraufhin sie freundlich, aber bestimmt ablehnt. Nachdem die
Zuhörer einen Refrain gesungen haben, in dem sie den Sänger
vor einem weiteren Versuch warnen, sich auf diese Weise die Geneigtheit
der Dame zu erkaufen, wendet sich ein anderer Werber an die Dame
— mit einem anderen Geschenk, aber freilich mit demselben
Ergebnis: Weder die angebotenen schicken Holzschuhe (die klyppeken) noch ein anderes Präsent wollen das Herz der Angebeteten erweichen.
Auch bei der Nr. 55 — wiederum eine Einzelstrophe mit Melodie
— handelt es sich um einen Text mit humorvollem Inhalt: Ein
Student muss seinem Vater gestehen, dass er den Besuch der
Universität abbrechen will, weil der akademische Lehrer, de mester, droht, ihn zu sehr zu schlagen.
Eine ausführliche Liste mit weiterführender Literatur zum
„Rostocker Liederbuch" findet sich auf
www.rostocker-liederbuch.de.
Die Liedtexte und ihre Übersetzungen, die Übertragungen der
Melodien sowie die literatur-und musikwissenschaftlichen Kommentare
stammen aus der Werkstatt der Rostock-Kieler Arbeitsgruppe zur
Neuedition des „Rostocker Liederbuchs"; zu dieser zählen
Prof. Dr. Andreas Bieberstedt (Institut für Germanistik der
Universität Rostock), Prof. Dr. Franz-Josef Holznagel (Institut
für Germanistik der Universität Rostock), Prof. Dr. Udo
Kühne (Institut für Klassische Altertumskunde der
Christian-Albrechts-Universität Kiel), Prof. Dr. Hartmut
Möller (Institut für Musikwissenschaft und
Musikpädagogik der Hochschule für Musik und Theater Rostock)
sowie Annika Bostelmann und Doreen Brandt (Institut für
Germanistik der Universität Rostock/ Digitales Archiv zum
„Rostocker Liederbuch").
Unser Dank gilt
— der Universität Rostock (und insbesondere dem Department
„Wissen - Kultur - Transformation") für die ideelle wie
finanzielle Unterstützung,
— der Hochschule für Musik und Theater Rostock für
vielfältige Hilfe und namentlich Carsten Storm, dem Leiter des
hauseigenen Tonstudios, für die Herstellung der Master-CD,
— den Mitarbeitern aus den Sondersammlungen der
Universitätsbibliothek (vor allem Heike Tröger und Christiane
Michaelis) und dem Direktor der UB, Herrn Robert Zepf, für die
langjährige fruchtbare Kooperation und
— dem Hinstorff Verlag für die schnelle und reibungslose Zusammenarbeit!
© für die Texte des Booklets:
Prof. Dr. Franz-Josef Holznagel
Universität Rostock
Institut für Germanistik
August-Bebel-Straße 28
18051 Rostock
© Hinstorff Verlag GmBH Rostock 2013
Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung, Vermietung, Aufführung und Sendung.
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